Alt, älter, Linde – Zu Biologie und Überlebensstrategien von Linden

Autor/en: 
Samuel HerrmannForstwissenschaftsstudent an der TU Dresden

Was gibt es Schöneres, als im Sommer unter einem Baum zu sitzen und zu entspannen? Was aber, wenn Deine Vorfahren vor hunderten Jahren auch unter demselben Baum gesessen, gelacht und getanzt haben? Dann wird das fast magisch. Bei der so eng mit dem Menschen verbundenen Linde ist das hin und wieder die Realität. Doch wie schafft sie es die Zeiten zu überdauern, wie kaum ein anderer Baum?

„Weißt du was hier mal stand?“ – es ist Februar und wir stapfen durchs verschneite Dresden, als plötzlich ein Freund von mir stehen bleibt. Vor ihm, fast direkt am Straßenrand, sehen wir die Reste eines beachtlichen Baumstumpfes: Knapp einen Meter im Durchmesser, umgeben von einer dicken netzförmigen Rinde. Aus dem Boden daneben sprießen allerlei Triebe, welche reichlich mit eiförmigen, roten Knospen bestückt sind. Doch auf seine Frage zucke ich mit den Schultern. Schon ähnliche Situationen wie diese gewohnt, nehme ich mein Smartphone aus der Jackentasche und öffne die Pflanzenbestimmungsapp meines Vertrauens. Schnell ist eine Knospe fotografiert und wenige Sekunden später bekommen wir das Ergebnis angezeigt: Tilia cordata, Winterlinde.
Nun können wir beide leider nur mutmaßen, was für ein stattlicher Baum hier gestanden haben muss. Wir fragen uns, was wohl passiert wäre, wenn unsere Linde weitergewachsen wäre und ist sie denn überhaupt tot? Die Wurzelausschläge gehören doch zum Baum, oder nicht?

Lebensraum und Abgrenzung

Blick auf die Voralpen mit Lindenbaum © NHV Theophrastus

Blick auf die Voralpen mit Lindenbaum © NHV Theophrastus

Doch erst einmal, wo kommen Linden eigentlich her? Von weltweit mindestens 20 verschiedenen Lindenarten (Gattung Tilia) kommen in Mitteleuropa nur 2 Arten vor1: die Winterlinde (Tilia cordata) und die Sommerlinde (Tilia platyphyllos). Diese Artenarmut ist für unsere mitteleuropäischen Baumarten ganz typisch und auf die besondere postglaziale Entwicklung zurückzuführen – aufgrund des Wechsels von Kalt- und Warmzeiten im Pleistozän wurden bei einer Vereisung immer wieder die Baumarten in die Mittelmeergebiete zurückgedrängt. In der anschließenden Warmzeit wanderten sie zurück, was sich allerdings aufgrund der blockierenden Lage der Alpen als äußerst schwierig gestaltete und so sind einige Arten im Laufe der Jahrtausende ausgestorben2.
Natürlicherweise finden wir die Linden als vereinzelt anzutreffende Mischbaumart in den tiefen bis mittleren Lagen, vor allem in sommerwarmen Eichen-Hainbuchen-Wäldern. Dabei überschneidet sich das Verbreitungsgebiet von Sommer- und Winterlinde, jedoch kommt die Winterlinde noch viel weiter im Osten vor. In Russland bildet sie sogar Reinbestände und löst die Rotbuche (Fagus sylvatica) ab, welche in Mitteleuropa ohne menschlichen Einfluss den Großteil der Waldfläche bedecken würde. Dies liegt daran, dass die dünne Borke der Rotbuche den strengen kontinentalen Wintern nicht standhält, und es zu Frosterscheinungen kommt. Die dicke Netzborke der Winterlinde ist dagegen frostresistenter3.

weiße Achselbärtchen – ein Merkmal für die Sommerlinde © Samuel Herrmann

weiße Achselbärtchen – ein Merkmal für die Sommerlinde © Samuel Herrmann

Eine Unterscheidung der beiden Linden-Arten stellt sich mitunter als schwierig heraus. Auch wenn die Winterlinde in der Theorie kleinere Blätter, unbehaarte Blattstiele und auf der Blattunterseite gelbliche anstatt weiße „Achselbärtchen“ besitzt, sind diese Merkmale im Feld meist nicht eindeutig zu erkennen. Dies wird auch durch die sogenannte „Holländische Linde“ (Tilia x vulgaris), eine künstliche Kreuzung aus Sommer- und Winterlinde erschwert. In der Natur würden diese Arten wohl kaum hybridisieren, da durch unterschiedliche Blühzeitpunkte eine gegenseitige Bestäubung verhindert wird3.
Deutlich abzugrenzen sind die beiden heimischen Lindenarten allerdings zu der aus dem Balkan stammenden Silberlinde (T. tomentosa). Diese, gern als Stadtbaum angepflanzte Art, unterscheidet sich durch größere Blätter und durch eine filzig behaarte Unterseite, aber auch in ihrer medizinischen Wirkung. So dürfen beispielsweise Teehersteller nur Sommer- und Winterlinden für einen Lindenblütentee verwenden4.

Eine echte Zeitzeugin

Doch zurück zu unserer gefällten Winter-Linde: In der App bekommen wir angezeigt, dass Linden tausend Jahre alt werden können. Schier unvorstellbar. Wie kann ein Baum ein solches Alter erreichen?

die Kaditzer Linde – auch nach 850 Jahren vital © Samuel Herrmann

die Kaditzer Linde – auch nach 850 Jahren vital © Samuel Herrmann

Die Antwort auf diese Frage führt uns ein paar Monate später nach Kaditz, einem Stadtteil im Dresdner Norden. Hier finden wir eine echte Zeitzeugin: Eine wohl 850 Jahre alte Sommerlinde, welche einst von slavischen Siedlern gepflanzt worden ist. So diente sie vermutlich im Mittelalter als Pranger, wo straffällig gewordene Personen öffentlich vorgeführt wurden, während später im Dreißigjährigen Krieg die Schweden unter ihr lagerten. Sie überlebte mehrere Brände der nebenstehenden Kirche und im Jahr 1811 war sie, aufgrund ihres Stammumfanges, bereits so bekannt, dass Goethe sie besucht und bewundert haben soll. 1818 brannte die Linde fast vollständig aus. Sie überlebte es und der entstandene Hohlraum war für die nächsten Jahrzehnte ein Treffpunkt für die Jugendlichen des Dorfes. Heute ist die eine Hälfte des Stammes weggebrochen und die runde, 20 m hohe Krone sitzt vollständig nur auf dem noch verbleibenden Teil5.

Überlebensstrategie 1: Verjüngung

Ein junger, glatter Ast sitzt auf einem älteren wie angeklebt. © Samuel Herrmann

Ein junger, glatter Ast sitzt auf einem älteren wie angeklebt. © Samuel Herrmann

Wir schauen uns die Krone an und eines fällt sofort auf: An zahlreichen Stellen sehen wir deutlich jüngere Äste, welche nahezu senkrecht auf einem älteren Ast aufsitzen und schon fast wie angeklebt aussehen.
Solche Äste werden deshalb auch als Klebäste oder Aufsitzer bezeichnet. Sie entstehen aus sogenannten schlafenden Knospen, welche unterentwickelt unter der Rinde sitzen und nur darauf warten, dass Licht auf die sonst beschattete Stelle fällt, um anschließend auszutreiben. Dies passiert, wenn beispielsweise ein alter, morscher Ast wegbricht und somit Sonnenstrahlen ihren Weg ins Kroneninnere finden. Somit kann der Baum sehr flexibel auf Verletzungen reagieren, indem er in der Lage ist, bei Bedarf neue, junge Äste zu schieben. Diese Fähigkeit wird als Reiteration bezeichnet. Der bei der Eiche bekannte Johannistrieb, welcher auch bei der Linde vorkommt, ist ebenfalls eine Ausprägung der Reiteration6.

Zahlreiche junge Triebe am Stamm sind ein Zeichen für großes Stockausschlags-Vermögen. © NHV Theophrastus

Zahlreiche junge Triebe am Stamm sind ein Zeichen für großes Stockausschlags-Vermögen. © NHV Theophrastus


Ganz typisch und normal für die Linde ist auch der Drang zur Bildung von Stockausschlägen bzw. Wurzelbrut.Während es bei anderen Baumarten meist auf eine Verletzung oder Krankheit hindeutet, ermöglicht diese Form der ungeschlechtlichen Vermehrung es dem Baum, auch wenn der Hauptspross wegfällt, weiter zu überleben. Unsere gefällte Linde ist also tatsächlich nicht tot. Das Wurzelwerk ist noch aktiv und kann im Sommer, zumindest für eine gewisse Zeit, weiterhin mit überlebenswichtigen Zuckern versorgt werden6. Diese Eigenschaft wurde sich früher in sogenannten „Niederwäldern“ zu Nutze gemacht. Bei dieser Form der Waldbewirtschaftung, welche rein zur Brennholzproduktion dient, wird der Stamm abgeschlagen und die nachwachsenden Stockausschläge können turnusmäßig nach wenigen Jahren geerntet werden. Auf diese Art und Weise konnte recht schnell leicht zu erntendes Brennholz produziert werden, als Holz noch der einzige Energieträger war2.

Überlebensstrategie 2: Sprossarchitektur

Dass bei der Kaditzer Linde der halbe Stamm weggebrochen ist, sorgt lediglich für statische Probleme, keineswegs aber wird die Leitfähigkeit des Stammes wesentlich eingeschränkt. In diesem wird Wasser von der Wurzel in die Krone geleitet, was durch Gefäße (Tracheen) im Holz erfolgt. Jedes Jahr bildet der Baum einen neuen Jahrring mit neuen Gefäßen, welcher das Wasser leitet. Nach ein paar Jahren verliert dieser Jahrring seine Funktion als Wasserleitung und somit werden immer nur die neuesten Jahrringe genutzt. Wenn also das Zentrum oder die eine Hälfte des Stammes fehlt, ist die Leitfähigkeit zwar ein wenig eingeschränkt, aber keineswegs unterbunden. Jedoch bieten derartige Bruchstellen immer die Gefahr, dass sich holzzersetzende Pilze ansiedeln können. Dies wird dadurch verhindert, dass an betroffenen Stellen eine neue Borke gebildet wird und dadurch das Innere möglichst geschützt bleibt7.

Überlebensstrategie 3: Blütezeitpunkt

Lindenknospen kurz vor der Blüte © Gabriele Hanke

Lindenknospen kurz vor der Blüte © Gabriele Hanke


Während schon alle anderen Bäume ringsherum blühen, lässt die Linde sich sehr viel Zeit. Sommerlinden blühen ab Juni, Winterlinden etwa zwei Wochen später, und gehören somit zu den spätesten Baumarten3.

Wenn die Linden blühen, sind sie oft die Hauptnahrungsquelle vieler Insekten. © NHV Theophrastus

Wenn die Linden blühen, sind sie oft die Hauptnahrungsquelle vieler Insekten. © NHV Theophrastus

Daraus ergeben sich aber auch einige Vorteile: Zunächst können vorhandene Ressourcen besser eingeteilt werden. Im Juni hat die Linde voll ausgetrieben, der Großteil des Wachstums ist abgeschlossen und die Pflanze betreibt ein Maximum an Photosynthese. Ideale Voraussetzungen, um sich vollständig auf die Blüte und die sehr energiezehrende Pollenproduktion „zu konzentrieren“. Es gilt allerdings zu beachten, dass schon in den Knospen veranlagt ist, wie viele Blüten der Baum im nächsten Frühjahr trägt. Die „Entscheidung“ über die Menge an Blüten (und somit auch der Menge an zu produzierenden Früchten) ist keineswegs eine spontane, an aktuelle Bedingungen angepasste, sondern geht immer auf die vergangene Vegetationsperiode zurück7. Der späte Blühzeitpunkt ist außerdem auch vorteilhaft für die Bestäubung der Blüten. Größtenteils findet die Bestäubung mithilfe von Insekten statt. Dabei ist die Linde sehr generalistisch – Tag und Nacht für Honigbienen (Apis melifera), Hummeln (Bombus sp.), Schwebfliegen (Syrphidae) und verschiedene Nachtfalter (Lepidoptera) geöffnet. Spezialisierte Insektenarten findet man aufgrund der Generalisierung tatsächlich eher selten.

eine Linde auf freiem Feld als Treff- und Ruhepunkt © NHV Theophrastus

eine Linde auf freiem Feld als Treff- und Ruhepunkt © NHV Theophrastus


Wegen der besonderen Blütezeit und somit mangelnden alternativen Blüten sind eben diese Insekten auf die Linde als Nahrungsquelle angewiesen. So gibt es hier eine besonders wichtige Symbiose: Die Insekten profitieren von der reichlichen Nektarproduktion und die Linde kann besonders schnell und effektiv bestäubt werden3.

Ohne Ende

Auch zum Aussehen der schönen, gelben und nach Maiglöckchen duftenden Blüte oder zu den verschiedenen Abwehrstrategien des Baumes gegen Pilze und Insekten ließe sich noch vieles sagen. Dennoch werden wir wohl nie ganz ergründen können, wie diese Bäume es schaffen, viele Jahrhunderte zu überdauern – ganz gleich, was auf sie zukommt.
Kaum eine mitteleuropäische Baumart ist so eng an den Menschen und seine Kultur geknüpft, wie die Linde, sicherlich auch deshalb, weil nur ein einziger Baum es schafft, unzählige Generationen von Menschen jahrhundertelang zu begeistern, indem er wirklich jedes einzelne Jahr aufs Neue austreibt. Immer und immer wieder.

2025

Literatur:

  1. Ellenberg, Heinz, 1963: Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen (= Grundlagen der Vegetationsgliederung in kausaler, dynamischer und historischer Sicht. Teil 2). Ulmer, Stuttgart.

  2. Küster, Hansjörg, 1998: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. C.H. Beck, München.

  3. Rolloff, A; Weisgerber, H; Lang, U, 2010: Bäume Mitteleuropas. Wiley-VCH, Weinheim.

  4. Brunner, Michel, 2007: Bedeutende Linden. Haupt Berne, Bern.

  5. Reinhardt, Siegfried, 2002: Eine Tausendjährige erzählt. In: Verein Neue Nachbarschaft Kaditz e. V. (Hrsg.): Typisch Kaditz: Geschichte und Geschichten.

  6. Roloff, A., 2004: Bäume. Phänomene der Anpassung und Optimierung. ecomed, Landsberg L.

  7. Bartels, H., 1993: Gehölzkunde. Ulmer Verlag; Stuttgart.

Samuel HerrmannForstwissenschaftsstudent an der TU Dresden