Eine Weltbürgerin / Muckefuck

In zwei Artikeln widmet sich Herr Lobenstein ebender Pflanze, deren Namen die Zeitschrift – ursprünglich von R.-M. Rilke ins Leben gerufen – trägt. Er äußert sich über die Wegwarte nicht nur aus seiner persönlichen Sicht, sondern informiert auch über Anbau und verwandte Pflanzen.

Eine Weltbürgerin

Der Berggarten in Hannover-Herrenhausen ist ein Juwel. Ich besuche so oft wie irgend möglich die wunderbare Anlage. Auch am 11.05.2019 war ich dort. Am Rand eines Weges fand ich eine Wegwartenpflanze. Kräftige Blätter verhießen eine reiche Blütezeit der Blauen Blume. Daneben ein Schild mit dieser Inschrift:

Asteraceae
Cichorium lntybus
Weltweit eingebürgert

Begeistert nahm ich die Information zur Kenntnis. Ich hatte bereits von Lesern zahlreiche Zuschriften über die Verbreitung der Wegwarten erhalten. Auf Urlaubsreisen wurden in entferntesten Ländern Wegwarten gefunden. Das Schild neben der Berggarten-Wegwarte war nach alledem eine Bestätigung. So kann ich überzeugt sagen: Die Blaue Blume ist eine Weltbürgerin!

Muckefuck

ln meinem Elternhaus gab es einen besonderen Kaffee. Wir nannten ihn Muckefuck. Damals wusste·ich noch nicht, dass unser Kaffee aus gemahlenen Wurzeln der Wegwarten bestand. Zichorien-Kaffee also. Der botanische Name der Pflanze Wegwarte: Cichorium intybus.
Meine Mutter fügte dem Aufguss von Cichorium eine echte Kaffeebohne hinzu und versicherte, dass damit der Geschmack veredelt würde. Sie glaubte fest daran. Ich hatte damals noch keine Vorstellung davon, wie der echte Kaffee schmeckt. Für mich war der Muckefuck eben Kaffee. Und obwohl ich jetzt mit großem Genuss Bohnenkaffee trinke, ist mir der Muckefuck-Geschmack noch immer lieb, vertraut und erinnerungsschwer…

Die Herkunft des Zichorienkaffees unterscheidet sich von der der Bohne erheblich. Das gilt auch für die Anbauart.
Wie der Anbau der Zuckerrübe vor sich geht, haben die meisten Menschen gesehen. Riesige Berge der Rüben werden auf den Feldern angehäufelt, bevor sie den Weg in die Zuckerfabriken finden. Viele Jahre zuvor gab es ein ähnliches Verfahren mit dem Zichorienanbau. Man ging mit der Blauen Blume nicht zimperlich um, die seit Novalis einen zauberhaften Ruf erfahren hat. Zur Ehrenrettung muss gesagt werden, dass zum Anbau des Ersatzkaffees nicht die wilde Feldwegwarte verwandt wurde, sondern die Gartenwegwarte (Cichorius fatiuum), eine kultivierte Art. Der Anbau begann Ende des 18. Jahrhunderts. Eine riesige und verzweigte Zichorienindustrie entstand in der Magdeburger Gegend. Aber auch in Sachsen, Baden, Braunschweig, Schlesien und Preußen gab es Darren. Die Magdeburger Börde war jedoch für den Anbau besonders geeignet, da der Boden reich an Humus war und nicht schwer.
Gesät wurden die Zichorienwurzeln Ende April und Mai. Auf einen Hektar konnten 140 000 Pflanzen gebracht werden. Geerntet wurde im Spätherbst. Die Wurzeln wurden gewaschen und zerkleinert, danach geröstet und schließlich gemahlen.

Vor dem Ernten wurden die Blätter geschnitten und als Futter für das Vieh verwendet. Also eine vielseitige, dankbare Pflanze.
Auf die Idee, aus Zichorienwurzeln einen Kaffee-Ersatz entstehen zu lassen, kam der Gärtner Timme im Jahre 1756. Erst später im Jahre 1769 wurde der Anbau der Zichorie großflächig und geschäftsträchtig betrieben.

Eine weitere Besonderheit der Nutzung der Wegwarte ist zu berichten: Sie wurde derart gezüchtet, dass sich aus ihren Blättern ein Salat herstellen ließ: Chicoree. Sie werden ihn sicher schon genossen haben, wenn nicht, so rate ich dringend dazu: ein Genuss!

Schließlich darf eine Verwandte der Wegwarte nicht unerwähnt bleiben: die Endivie (Cichorium endivia). Ihre Wurzeln haben die wundersame Kraft, unser Fieber zu senken. Selbst der Samen vermag noch Ungewöhnliches, indem er uns gegen die Gelbsucht hilft. Am Rande sei vermerkt, dass die gebleichten Köpfe der Pflanze einen winterlichen Salat abgeben. Mit ihr ist sogar eine Besserung von Augenleiden zu erreichen.

Alles in allem hat die Wegwarte also dreierlei wirtschaftliche Bedeutungen.
Ich muss noch einmal auf den Muckefuck-Kaffee meines Elternhauses zurückkommen. Der Bohnenkaffee setzte zwar seinen Siegeszug fort, aber bis heute wird auch noch der Zichorienkaffee getrunken.
Auch ich trinke hin und wieder den Muckefuck meiner lieben Mutter, allerdings ohne den winzigen Zusatz einer einzigen Bohne.
Die Jugendzeit kehrt indessen nicht wieder. Sie ist verloren.

Autor: WALTER LOBENSTEIN
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Herrn Walter Lobenstein, Herausgeber der literarischen Zeitschrift “Wegwarten“,
aus Heft 224, 2019, 59. Jahrgang